Haftung einer Tochtergesellschaft für den Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht?


Das Opfer einer Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht der Union, die von einer Muttergesellschaft begangen wurde, kann von seiner Tochtergesellschaft den Ersatz des entstandenen Schadens verlangen.

Dazu muss es nachweisen, dass die beiden Unternehmen zum Zeitpunkt der Zuwiderhandlung eine wirtschaftliche Einheit bildeten.

Zwischen 1997 und 1999 erwarb die Sumal SL zwei Lkw von der Mercedes Benz Trucks España SL (MBTE), einer Tochtergesellschaft des Daimler-Konzerns, dessen Muttergesellschaft die Daimler AG ist.

Mit Beschluss vom 19. Juli 2016 (Beschluss K(2016) 4673 endg. in einem Verfahren nach Artikel 101 [AEUV] und Artikel 53 EWR-Abkommen (Sache AT.39824 - Trucks), dessen Zusammenfassung im Amtsblatt der Europäischen Union vom 6. April 2017 - ABl. 2017 C 108, S. 6 - veröffentlicht wurde, stellte die Europäische Kommission fest, dass die Daimler AG gegen die unionsrechtlichen Vorschriften über das Kartellverbot (Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens) verstoßen hatte, indem sie zwischen Januar 1997 und Januar 2011 mit 14 anderen europäischen Lkw-Herstellern Vereinbarungen über Preise und Erhöhungen der Bruttolistenpreise für Lkw im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) getroffen hatte.)

Im Anschluss an diese Entscheidung erhob Sumal eine Schadensersatzklage gegen MBTE und forderte die Zahlung von 22 204,35 Euro für den durch das Kartell entstandenen Schaden. Die Klage von Sumal wurde jedoch vom Juzgado de lo Mercantil n° 07 de Barcelona (Handelsgericht Nr. 7 von Barcelona, Spanien) mit der Begründung abgewiesen, dass MBTE von der Entscheidung der Kommission nicht betroffen sei.

Sumal legte gegen dieses Urteil Berufung bei der Audiencia Provincial de Barcelona (Provinzgericht Barcelona, Spanien) ein. Vor diesem Hintergrund fragt sich das vorlegende Gericht, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen eine Schadensersatzklage gegen eine Tochtergesellschaft einer Muttergesellschaft erhoben werden kann, nachdem die Kommission in einer Entscheidung festgestellt hat, dass diese Gesellschaft ein wettbewerbswidriges Verhalten gezeigt hat. Das Gericht hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und diese Frage dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorzulegen.

In seinem Urteil der Großen Kammer legt der Gerichtshof die Voraussetzungen dar, unter denen die Opfer eines wettbewerbswidrigen Verhaltens eines von der Kommission sanktionierten Unternehmens in Schadensersatzklagen vor nationalen Gerichten die zivilrechtliche Haftung von Tochtergesellschaften des sanktionierten Unternehmens geltend machen können, die von der Entscheidung der Kommission nicht betroffen sind.

Beurteilung durch den Europäischen Gerichtshof

Nach ständiger Rechtsprechung kann jedermann von "Unternehmen", die sich an einem nach Artikel 101 AEUV verbotenen Kartell oder Verhalten beteiligt haben, den Ersatz des durch diese wettbewerbswidrigen Praktiken verursachten Schadens verlangen. Auch wenn solche Schadenersatzklagen vor nationalen Gerichten erhoben werden, unterliegt die Bestimmung der zum Ersatz des entstandenen Schadens verpflichteten Stelle unmittelbar dem Unionsrecht.

Da diese Schadensersatzklagen ebenso fester Bestandteil des Systems zur Durchführung der Wettbewerbsvorschriften der Union sind wie deren Durchführung durch die Behörden, kann der Begriff "Unternehmen" im Sinne von Art. 101 AEUV im Rahmen der Verhängung von Geldbußen gegen "Unternehmen" durch die Kommission (öffentliche Durchsetzung) und im Rahmen von Schadensersatzklagen gegen diese "Unternehmen" vor den nationalen Gerichten (private Durchsetzung) keine unterschiedliche Bedeutung haben.

Nach der Rechtsprechung umfasst der Begriff "Unternehmen" im Sinne von Artikel 101 AEUV jedoch jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung, und bezeichnet somit eine wirtschaftliche Einheit, auch wenn sie rechtlich aus mehreren natürlichen oder juristischen Personen besteht.

Steht fest, dass eine Gesellschaft, die Teil einer solchen wirtschaftlichen Einheit ist, gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV in der Weise verstoßen hat, dass das ³eUnternehmen³c, zu dem sie gehört, die Zuwiderhandlung gegen diese Bestimmung begangen hat, begründen der Begriff ³eUnternehmen³c und damit der Begriff ³ewirtschaftliche Einheit³c von Rechts wegen die gesamtschuldnerische Haftung der Einheiten, die die wirtschaftliche Einheit zum Zeitpunkt der Zuwiderhandlung bildeten.

Insoweit weist der Gerichtshof auch darauf hin, dass der in Art. 101 AEUV verwendete Begriff des ³eUnternehmens³c ein funktionaler Begriff ist, bei dem die wirtschaftliche Einheit, die das Unternehmen bildet, unter dem Gesichtspunkt des Gegenstands der betreffenden Vereinbarung zu bestimmen ist.

Wird das Vorliegen eines Verstoßes gegen Art. 101 Abs.. 1 AEUV durch eine Muttergesellschaft, so steht es dem Geschädigten dieser Zuwiderhandlung frei, anstelle der Muttergesellschaft eine ihrer Tochtergesellschaften zivilrechtlich haftbar zu machen, sofern der Geschädigte zum einen nachweist, dass angesichts der wirtschaftlichen, organisatorischen und rechtlichen Verbindungen zwischen diesen beiden juristischen Personen und zum anderen, dass ein konkreter Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Tätigkeit dieser Tochtergesellschaft und dem Gegenstand der Zuwiderhandlung, für die die Muttergesellschaft haftbar gemacht wurde, besteht, diese Tochtergesellschaft mit ihrer Muttergesellschaft eine wirtschaftliche Einheit bildete.

Folglich müsste Sumal unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, um eine Schadensersatzklage gegen MBTE als Tochtergesellschaft der Daimler AG zu erheben, grundsätzlich nachweisen, dass die von der Daimler AG getroffene wettbewerbswidrige Vereinbarung dieselben von MBTE vertriebenen Produkte betrifft. Sumal müsste also nachweisen, dass die wirtschaftliche Einheit, zu der MBTE gehört, zusammen mit ihrer Muttergesellschaft das Unternehmen darstellt, das die von der Kommission nach Artikel 101 Absatz 1 AEUV festgestellte Zuwiderhandlung begangen hat.

Im Rahmen einer solchen Schadensersatzklage gegen die Tochtergesellschaft einer Muttergesellschaft, bei der eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV festgestellt worden ist, muss die Tochtergesellschaft jedoch vor dem betreffenden nationalen Gericht über alle Mittel verfügen, die zur ordnungsgemäßen Ausübung ihrer Verteidigungsrechte erforderlich sind, und insbesondere in der Lage sein, ihre Zugehörigkeit zu demselben Unternehmen wie ihre Muttergesellschaft zu bestreiten.

Wird jedoch, wie im vorliegenden Fall, eine Schadensersatzklage auf die Feststellung einer Zuwiderhandlung gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV durch die Kommission in einer an die Muttergesellschaft der beklagten Tochtergesellschaft gerichteten Entscheidung gestützt, kann die Tochtergesellschaft das Vorliegen der von der Kommission festgestellten Zuwiderhandlung vor dem nationalen Gericht nicht bestreiten. Nach Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101] und [102] AEUV niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1) dürfen die nationalen Gerichte keine Entscheidungen erlassen, die der Entscheidung der Kommission zuwiderlaufen.

Hat die Kommission hingegen in einer Entscheidung nach Art. 101 AEUV kein rechtswidriges Verhalten der Muttergesellschaft festgestellt, kann die Tochtergesellschaft natürlich nicht nur ihre Zugehörigkeit zu demselben ³eUnternehmen³c wie die Muttergesellschaft, sondern auch das Vorliegen der ihr vorgeworfenen Zuwiderhandlung bestreiten.

Insoweit stellt der Gerichtshof auch klar, dass die Möglichkeit, dass das nationale Gericht feststellt, dass die Tochtergesellschaft für den entstandenen Schaden haftet, nicht allein deshalb ausgeschlossen ist, weil die Kommission gegebenenfalls keine Entscheidung erlassen hat oder weil die Entscheidung, mit der sie die Zuwiderhandlung festgestellt hat, keine verwaltungsrechtliche Sanktion gegen diese Gesellschaft verhängt hat.

Daher steht Art. 101 Abs. 1 AEUV einer nationalen Regelung entgegen, die die Möglichkeit vorsieht, die Haftung für das Verhalten eines Unternehmens einem anderen Unternehmen nur dann zuzuweisen, wenn das zweite Unternehmen das erste kontrolliert.

Quelle: EuGH-Pressemitteilung Nr. 174/2021 v. 06.10.2021